Ein Bürger kämpfte jahrelang um die GdB 50: Feststellung rückwirkend seit 2012, da er nie einen Ablehnungsbescheid erhalten hatte. Das Gericht stellte den fehlenden Zugang des Bescheids fest, doch die ersehnte rückwirkende Anerkennung begann erst sechs Jahre später. Zum vorliegenden Urteil Az.: L 3 SB 139/23 | | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landessozialgericht Baden‑Württemberg
- Datum: 18.12.2024
- Aktenzeichen: L 3 SB 139/23
- Verfahren: Berufungsverfahren
- Rechtsbereiche: Sozialrecht, Feststellung des Grades der Behinderung
- Das Problem: Ein Kläger forderte die rückwirkende Anerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem Jahr 2012. Die Behörde hatte den Antrag abgelehnt und den späteren Widerspruch als zu spät eingereicht zurückgewiesen.
- Die Rechtsfrage: War der Widerspruch des Klägers zulässig oder war der Ablehnungsbescheid bereits bestandskräftig geworden? Und ab welchem Zeitpunkt stand dem Kläger tatsächlich ein GdB von 50 zu?
- Die Antwort: Der Widerspruch war zulässig, weil die Behörde nicht nachweisen konnte, wann der Ablehnungsbescheid dem Kläger zuging. Das Gericht verneinte GdB 50 ab 2012, stellte aber GdB 30 ab 2012, GdB 40 ab 2016 und GdB 50 ab 2018 fest.
- Die Bedeutung: Behörden müssen den Zugang von Bescheiden beweisen, sonst tritt keine Bestandskraft ein und die Widerspruchsfrist beginnt nicht. Der festgestellte Grad der Behinderung richtet sich streng nach dem Zeitpunkt, an dem sich die einzelnen Gesundheitsstörungen verschlechtert haben oder neu aufgetreten sind.
Der Fall vor Gericht
War der jahrelange Kampf um GdB 50 umsonst, weil ein Brief verschwunden war?
Ein Brief, der jahrelang verschollen war – oder vielleicht nie existierte. Für einen Mann, der seit einem Unfall 2008 mit den Folgen kämpft, wurde dieses eine Schriftstück zur entscheidenden Hürde in seinem Ringen um die Anerkennung seiner Schwerbehinderung. Die Behörde behauptete, sie hätte seinen Antrag bereits 2012 abgelehnt. Der Mann entgegnete: „Diesen Brief habe ich nie bekommen.“ Damit stand eine simple, aber folgenschwere Frage im Raum, bevor die Ärzte überhaupt zu Wort kamen: Wer muss beweisen, dass ein Brief sein Ziel erreicht hat?
Muss die Behörde den Zugang eines Bescheids beweisen?
Ja, das muss sie. Der Streit begann mit einem formalen K.o.-Argument der Behörde. Der Mann habe seinen Widerspruch gegen die Ablehnung von 2012 erst im Jahr 2017 eingelegt – fünf Jahre zu spät. Der Ablehnungsbescheid sei damit unanfechtbar geworden. Ein klassischer Fall von „fristverpasst, Pech gehabt“. Das Gericht sah das anders. Es stellte eine grundlegende Regel des Verwaltungsrechts klar: Eine Behörde, die sich auf die Wirksamkeit eines Bescheids beruft, muss dessen Zugang im Zweifel auch beweisen. Zwar gibt es im Sozialrecht eine Regelung, die vermutet, dass ein Brief drei Tage nach der Aufgabe zur Post als zugegangen gilt (§ 37 Abs. 2 SGB X). Diese Vermutung ist aber kein unumstößliches Gesetz. Bestreitet der Empfänger den Zugang glaubhaft, zerbricht die Fiktion. Die Beweislast kehrt zur Behörde zurück. Sie muss dann konkret nachweisen, dass der Bescheid den Machtbereich des Empfängers erreicht hat. Das konnte die Behörde hier nicht. Der Weg für eine inhaltliche Prüfung des Anspruchs war frei.
Wie entsteht aus Tinnitus, Knieschmerz und Depression ein einziger GdB-Wert?
Nachdem die formale Hürde gefallen war, begann die eigentliche Arbeit: die medizinische Bewertung….