Ein technischer Leiter in der Molkerei-Industrie erhielt eine verhaltensbedingte Kündigung ohne Abmahnung, nachdem ihm schwere Versäumnisse bei Wartung und Eichfristen vorgeworfen wurden. Das Landesarbeitsgericht musste entscheiden, wie schwer die Pflichtverletzungen wiegen mussten, um das mildere Mittel der Abmahnung zu umgehen. Zum vorliegenden Urteil Az.: 2 Sa 56/19 | | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landesarbeitsgericht Mecklenburg‑Vorpommern
- Datum: 04.11.2019
- Aktenzeichen: 2 Sa 56/19
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Kündigungsschutzrecht, Arbeitsrecht
- Das Problem: Ein technischer Leiter wurde wegen angeblicher Organisations- und Wartungsmängel ordentlich gekündigt. Ihm wurden unter anderem Fehler an einem Dampfkessel, versäumte Eichfristen von Waagen und Unordnung vorgeworfen.
- Die Rechtsfrage: Durfte der Arbeitgeber den Leiter wegen angeblicher Pflichtverletzungen ohne vorherige Abmahnung kündigen?
- Die Antwort: Nein. Die Kündigung ist nicht sozial gerechtfertigt. Das Gericht sah die Vorwürfe als nicht ausreichend konkret bewiesen oder substantiiert an. Für die meisten Fehler wäre zuerst eine Abmahnung erforderlich gewesen.
- Die Bedeutung: Arbeitgeber tragen die volle Beweislast für Kündigungsgründe und müssen sie detailliert darlegen. Bei minderen oder ersten Pflichtverletzungen ist eine Kündigung ohne Abmahnung in der Regel unwirksam. Obsiegt ein Arbeitnehmer in erster Instanz, muss er während des Verfahrens weiterbeschäftigt werden.
Der Fall vor Gericht
Warum war eine lange Mängelliste kein Kündigungsgrund?
Ein defekter Dampfkessel. Drei Waagen mit abgelaufener Eichfrist. Ein Not-Aus-Schalter, der ungenutzt auf dem Schreibtisch liegt. Die Kündigungsgründe, die ein Molkerei-Unternehmen gegen seinen technischen Leiter ins Feld führte, lasen sich wie das Sündenregister eines ganzen Jahres. Doch vor dem Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern zählte nicht die Länge der Liste – sondern die Substanz jedes einzelnen Vorwurfs. Das Gericht musste klären, ob die Kündigung sozial gerechtfertigt war, wie es das Kündigungsschutzgesetz (§ 1 KSchG) verlangt. Der Arbeitgeber trug die volle Darlegungs- und Beweislast. Er musste jeden einzelnen Fehler nicht nur behaupten, sondern lückenlos beweisen und darlegen, warum dieser eine schwere Pflichtverletzung darstellte. Genau hier lag das Problem. Die Vorwürfe des Unternehmens erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als eine Kette aus Vermutungen, unvollständigen Fakten und verschobener Verantwortung. Der technische Leiter konnte zu fast jedem Punkt eine plausible Erklärung liefern – und das Unternehmen konnte diese Erklärungen nicht widerlegen. Die Richter machten klar: Eine Kündigung stützt sich nicht auf die schiere Menge an Vorwürfen, sondern auf die bewiesene Schwere der Verstöße.
Wie bewertete das Gericht die Probleme mit dem alten Dampfkessel?
Der Dampfkessel war das Herzstück der Anklage. Die Anlage aus dem Jahr 1992 war alt und hatte Mängel, die sogar der TÜV beanstandet hatte. Das Unternehmen warf dem technischen Leiter vor, eine Reparatur im November 2017 mangelhaft überwacht zu haben, weil dieselben Fehler kurz darauf wieder auftraten. Das Gericht durchleuchtete diesen Vorwurf akribisch. Der technische Leiter argumentierte, er habe nach der Reparatur durch eine Fremdfirma eine Funktionsprüfung durchgeführt. Alles schien in Ordnung….