Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz – Az.: VGH B 19/19 – Urteil vom 15.01.2020
Amtlicher Leitsatz
Die Ansprüche auf effektiven Rechtsschutz (Art. 124 LV) und auf den gesetzlichen Richter (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 LV) sind verletzt, wenn ein Gericht die gesetzliche Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht willkürlich außer Acht lässt (hier: divergierende Rechtsprechung von Oberlandesgerichten zu einem Anspruch des Betroffenen auf Überlassung der Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgerätes und Messdaten).
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Juni 2019 – 2 OWi 6 SsRs 118/19 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 und Artikel 124 der Verfassung für Rheinland-Pfalz. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Koblenz zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerdeverfahren notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei im Ordnungswidrigkeitenverfahren ergangene gerichtliche Entscheidungen. Sie betrifft die Reichweite von (Akten-)Einsichts- und Verteidigungsrechten in Bußgeldverfahren, die auf amtliche Geschwindigkeitsmessungen im sog. standardisierten Messverfahren gestützt sind.
I.
1. Mit Bußgeldbescheid vom 22. Februar 2018 verhängte das Polizeipräsidium Rheinpfalz, Zentrale Bußgeldstelle, gegen den Beschwerdeführer wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h eine Geldbuße in Höhe von 120,00 €. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mittels eines in einen Anhänger (sog. Enforcement Trailer) eingebauten Messgerätes, Typ PoliScan FM1, der Firma Vitronic.
Mit Schreiben vom 7. Dezember 2017 bestellte sich die Bevollmächtigte zur Verteidigerin des Beschwerdeführers und erhielt auf ihren Antrag hin Einsicht in die Ermittlungsakte. Unter dem 3. Januar 2018 beantragte sie bei dem Polizeipräsidium Rheinpfalz, ihr weitere Unterlagen bzw. Datensätze zur Verfügung zu stellen, unter anderem die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe, die zur Entschlüsselung der Daten notwendige Token-Datei samt Passwort, die Statistikdatei mit Case-List sowie Instandsetzungs-, Wartungs- und Eichnachweise des Messgeräts (sog. Lebensakte). Das Polizeipräsidium Rheinpfalz überließ der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers unter dem 5. Februar 2018 den eigenen Fallda[…]